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Führen in exponentiellen Zeiten

Was holakratisch geführte Unternehmen ausmacht – ein Interview mit Patrick Scheuerer – Teil 1

Für diesen Blogbeitrag habe ich mit Patrick Scheuerer gesprochen. Er begleitet Organisationen und Unternehmen bei der Einführung und Umsetzung des holakratischen Organisationsmodells. Patrick ist Transformation-Guide, Certified Holacracy-Coach und Experte für Selbst-Management und dezentrale Unternehmensführung.

Im ersten Teil unseres Gespräches nehmen wir uns die Themen Macht und Hierarchien in Organisationen vor. Außerdem sprechen wir über die Verfassung – das Kernstück jeder holakratisch geführten Organisation. Welche Punkte werden darin geregelt und welche werden explizit nicht geregelt?

Everhard Uphoff

Diese 6 Themen stehen im ersten Teil unseres Interviews im Fokus:

  • Das „Zentrum der Macht“: Monarchie vs. Demokratie
  • Haben Hierarchien grundsätzlich ausgedient?
  • Eine wichtige Erkenntnis: Im Kreis befinden sich nie Leute
  • Das Grundgesetz und seine 5 Artikel
  • Die modulare Einführung von Verfassungsartikeln: Herausforderungen & Chancen
  • Ein entscheidender Punkt: Holakratie ist eine Praxis

Das „Zentrum der Macht“ liegt nicht bei einer einzelnen Person

Die Grundlage oder der eigentliche Unterschied bei einer holakratisch geführten Organisation im Vergleich zu einer konventionellen Managementhierarchie liegt primär darin, dass das Governance-System, also der Ort der Befugnis – dort wo eigentlich die Macht liegt – nicht mehr bei einer einzelnen Person zu finden ist. Zum Beispiel bei einem oder einer CEO.

In der Holakratie liegt das „Zentrum der Macht“ in einem Regelwerk – der Verfassung.

„Man könnte es vergleichen mit einer Monarchie. Dort gibt es eine Person, den König oder die Königin, die in letzter Instanz die volle Befugnis hat, zu entscheiden. In einer Demokratie hingegen gibt es ein Grundgesetz, in dem klare Regeln festgelegt werden und an die sich alle zu halten haben.“

Haben Hierarchien in Zukunft grundsätzlich ausgedient?

Das ist eine Frage, die häufig im Zusammenhang mit Holakratie gestellt wird. Es ist insofern richtig, dass es in einer holakratisch geführten Organisation keine Hierarchie von Personen gibt. Es gibt keine Personen, die anderen Personen gegenüber weisungsbefugt sind, und zwar absolut und in allen Belangen. Wie das z.B. bei einem oder einer CEO der Fall wäre.

In holakratisch strukturierten Unternehmen ist die Handlungs- oder Weisungsbefugnis immer rollenbasiert. Das heißt, in dem Moment, in dem ein Mitarbeitender eine Rolle übernimmt, ist die Handlungs- oder Weisungsbefugnis immer an diese Rolle gebunden. In holakratisch geführten Organisationen ist zwar auch eine Form der Hierarchie enthalten, aber es ist eine andere Form von Hierarchie. Es werden nicht Menschen „geordnet“ sondern Arbeit organisiert. Man könnte also sagen, ein Unternehmen, das Holakratie praktiziert, hat zwar eine Hierarchie, aber eine Hierarchie von Ordnungseinheiten oder von sinnhaften Arbeitsbünden.

Man braucht in Organisationen z. B. Produkte, Marketing, oder Personal die die Arbeit tun. Und in all diesen verschiedenen Kontexten entsteht Arbeit. Diese Tätigkeiten werden in sogenannten Kreisen gebündelt. Das sind dann größere Einheiten. Und so bricht sich das stetig weiter runter in konkretere kleinere Bündel von sinnhafter Arbeit. Es gibt also eine hierarchische Grundstruktur, aber es ist eine andere Form von Hierarchie.

Ein wichtiges Element: Im Kreis befinden sich nie Leute

Natürlich gibt es Menschen, die die Rollen in diesen Kreisen übernehmen. Aber die Rollen sind immer erstmal entkoppelt von den Personen. Die Struktur der Organisation wird im ersten Schritt immer losgelöst von den Menschen, die die Arbeit tun, betrachtet.

„Viel wichtiger ist es zu sehen, was ist die Arbeit, die es braucht, um den Sinn und Zweck dieses Kreises zu erfüllen und wie muss die Arbeit am sinnvollsten geordnet und gebündelt werden? Erst dann wird die am besten geeignete Person gesucht, die diese Arbeit (z.B. social media) erledigen kann.

Grundsätzlich sind alle Leute, die eine Rolle in einem Kreis übernehmen automatisch Kreismitglieder. Das hat zur Folge das es nicht passieren wird, dass jemand in dem Kreis mitredet, ohne darin eine konkrete Aufgabe zu erledigen.“

Patrick Scheuerer

Die Verfassung einer Organisation: Grundprinzipien und Regulierung

Die fünfte und neueste Version des holakratischen Grundgesetzes enthält inzwischen fünf Artikel:

  • Artikel eins regelt die Organisationsstruktur

Wie wird die Arbeit in einer Organisation strukturiert und festgelegt? Was ist ein Kreis, was sind Rollen und wie hängen die zusammen?

  • Artikel zwei regelt die Zusammenarbeit

Was haben die Partner oder Mitglieder der Organisation für Rechte und Pflichten? Z.B. Pflicht zur Transparenz, Pflicht zur Verarbeitung, Pflicht zur Priorisierung. Hier werden grundlegende Dinge geregelt, die unabhängig von der eigenen Rolle über alle Rollen hinweg gelten.

  • Artikel drei regelt die operativen Meetings

Wie können sich die Mitglieder eines Kreises untereinander auf operativer Ebene abstimmen? Wer darf teilnehmen und wie läuft der Prozess eines Meetings ab?

  • Artikel vier verteilt die Befugnisse

Und er bestimmt auch was nicht erlaubt ist. Grundsätzlich hat man gemäß der Verfassung sehr weitreichende Befugnisse. In dem Moment, in dem der Mitarbeiter eine Rolle übernimmt, darf er alles tun und entscheiden, was sinnvoll und nötig ist, um den Sinn und Zweck der Rolle zu erfüllen. Eine 180 Grad andere Grundvoraussetzung als in den meisten konventionellen Unternehmen, wo man erstmal um Erlaubnis fragen muss, um was tun zu dürfen. Artikel vier definiert aber auch ein paar wenige Ausnahmen von dieser Grundregel. Nämlich das z.B. nicht gegen Richtlinien verstoßen werden darf. Oder wann sich die Mitarbeiter:innen Befugnis einholen müssen, bevor sie Ausgaben tätigen.

  • Artikel fünf definiert den Governance-Prozess

Der Governance-Prozess sagt aus, wie diese Struktur weiterentwickelt werden soll. Wenn zum Beispiel bemerkt wird das eine neue Rolle gebraucht wird, weil neue Arbeit angefallen ist, die so noch nicht organisiert wurde. Es werden neue Rollen geschaffen, bestehende Rollen angepasst oder evtl. auch gelöscht.

Was jedoch hier nicht geregelt wird ist zum Beispiel, wer wieviel Gehalt bekommt, wie der Rekrutierungsprozess abläuft oder das Marketing funktionieren soll.

All diese Dinge sind darin nicht definiert und werden auch mit keinem Wort erwähnt. Das kann und muss jedes Unternehmen für sich entscheiden. Wenn man sich die Governance von unterschiedlichen, holakratisch organisierten Unternehmen anschaut, dann ist auffällig das diese sehr individuell sind. Weil auch die Unternehmen selbst sehr unterschiedlich sind.

„Diese fünf Artikel werden immer im Grundgesetz versucht zu implementieren. Um dann von der Organisation mit Leben in Form ihrer eigenen Werte, ihrer Gruppendynamiken oder Rahmenbedingungen gefüllt zu werden.“

 

Patrick Scheuerer

Ein plastisches Beispiel ist das Thema Fußball. Im Fußball gibt es ein universelles Regelwerk. Das sind die Fifa-Regeln. Wenn man sich aber fünf Teams ansieht, wie sie spielen, wird man sehen das alle fünf völlig anders spielen. Der Spielstil, die Taktik, die Strategie. Sie sind anders aufgestellt und haben andere Persönlichkeiten. Das kommt im Spielgeschehen zum Ausdruck. Sehr ähnlich ist es in holakratischen Unternehmen. Es haben zwar alle die gleichen Spielregeln und das gleiche Regelwerk auf Basis derer sie zusammenarbeiten.

Aber die Art und Weise, wie sie das zum Ausdruck bringen, ist sehr unterschiedlich und sehr individuell. Nämlich geprägt von den Persönlichkeiten, von der Kultur und von den Rahmenbedingungen des Unternehmens, sowie natürlich von der Branche. All diese Dinge haben einen Einfluss darauf, wie schlussendlich Holakratie praktiziert wird.

Ein entscheidender Punkt: Holakratie ist eine Praxis.

„Entscheidend ist natürlich, dass die Regeln mit Leben gefüllt werden. Ansonsten wäre es nur tote Materie. Darauf achten wir in unserer Transformationsbegleitung. Am Ende geht es darum, dass die Leute lernen, eine gute, wirkungsvolle Praxis aufzubauen. Also diese Regeln im Alltag wirkungsvoll, (wirkungsvoll im Sinne des Sinns und Zwecks ihrer Organisation) anzuwenden und einzusetzen. Darum geht es uns!“ 

Patrick Scheuerer

Im zweiten Teil dieses Interviews gehen wir folgenden Fragen auf den Grund:

  • Was wichtiger ist als Mindset: Die Praxis
  • Selbstmanagement: Die Grundregeln für persönliche Entwicklung
  • Wo liegen die größten Hemmnisse?
  • Grenzen überwinden: Die Herausforderungen in der Praxis
  • Von der Einsamkeit zur Verantwortung: die komplexe Rolle der Führungskraft
  • Wieviel Führung braucht es noch?
  • Implizite Annahmen haben kein Gewicht

Kontakt

DIALOGSCHMIEDE®
Silke Küstner